Der Friede entsteht im Zuhören
La paz se construye eschuchando nos

Herzliche Grüsse aus Bogota. Seit fünf Wochen habe ich die Chance in Sprache und Kultur Kolumbiens einzutauchen. In der Hauptstadt Bogota leiten die Jesuiten die Javeriana, die wohl grösste Jesuitenuniversität Lateinamerikas, mit über 22.000 Studierenden. Dort wurde ich herzlich aufgenommen.
Im Sprachunterricht studierten wir auch die junge Geschichte Kolumbiens. Ich war bewegt von der vielen Gewalt, die dieses Land seit seiner Gründung prägt. In den vergangenen 50 Jahren sind es die blutigen Konflikte zwischen Guerilla Organisationen, Paramilitärs, Drogenkartelle und dem Militär. Die Zahl der Toten wird auf über 450.000 geschätzt. Vor diesem Hintergrund erscheint der Friedenschluss im November 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC, der grössten Guerilla-Organisation Kolumbiens, als Meilenstein und als eine grosse Verheissung.
Dieser Friedensabschluss inspiriert nach wie vor die Sehnsucht vieler Kolumbianerinnen und Kolumbianer. Der ausdrucksstarke Titel einer podcast-Serie des Radio Nacional de Colombia fasst dies folgendermassen ins Wort: «Der Friede entsteht im Zuhören». Im Vordergrund sind die Agrarreform und der Traum vieler Campesinos von einem eigenen Stück Land. Erste Schritte dazu sind das offizielle Registrieren von Land, das bisher von den Campesinos bearbeitet wurde. In diesem Podcast melden sie sich selbst zu Wort.
Das einander Zuhören stand auch im Mittelpunkt der Wahrheitskommission (Comisión para el Esclarecimiento de la Verdad, la Convivencia y la No Repetición – CEV), die nach dem Friedensabschluss ihre Arbeit aufnahm und im Sommer 2022 ihren Bericht vorlegte. Er beruht auf Aussagen von fast 30.000 Personen in individuellen und kollektiven Interviews. Die Leitung der Kommission wurde dem Jesuiten Francisco de Roux anvertraut. Zu Beginn des Berichtes formuliert er folgende Fragen:
„Warum hielt das Land nicht inne und forderte die Guerilla und den Staat auf, den politischen Krieg frühzeitig zu beenden und einen umfassenden Frieden auszuhandeln? Welche Institutionen verhinderten den bewaffneten Konflikt nicht, sondern förderten ihn? Wo war der Kongress, wo waren die politischen Parteien? Inwieweit kalkulierten diejenigen, die zu den Waffen gegen den Staat griffen, die brutalen und makabren Folgen ihrer Entscheidung? […] Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist? Und wie können wir es wagen, es weiterhin zuzulassen?“
In der pastoralen Arbeit der Jesuiten mit den Studierenden der Universität wird auf berührende Weise deutlich, wie fast alle Familien dieser jungen Menschen Opfer von Gewalt, Erpressung oder Vertreibung wurden. Und so formuliert der Rektor der Universität das Thema der Versöhnung als eine der wichtigsten Aufgabe der Jesuiten in Kolumbien.
Tobias Karcher SJ 12. Juni 2023
