Lassalle-Symposium 2024
Hat Neutralität noch Zukunft?
Von Anastasia Balzer*
Das Lassalle-Institut hat an seinem jüngsten Symposium die Schweizerische Neutralität zum Thema gemacht. Angesichts geopolitischer Entwicklungen steht es wieder einmal in Frage. Drei prägnante Keynote-Referate und die Mitwirkung von über 60 Gästen aus der Lassalle-Community machten den Anlass zu einer wertvollen Standortbestimmung für Menschen in Führungsverantwortung.
Neutralität gilt in der Schweiz als Schlüsselprinzip für gutes Entscheiden im internationalen Kontext. Aktuelle Kriege sowie Herausforderungen wie Migration und Klimawandel stellen dieses Prinzip jedoch zunehmend infrage. Das Lassalle-Institut griff daher das Thema in einem Symposium auf.
Ein Schwerpunkt lag zwar auf der staatlichen Neutralität, zu der sich der stellvertretende Leiter der NZZ-Auslandredaktion, Andreas Rüesch, pointiert äusserte. Mit weiteren Referaten diskutierten der Unternehmer Klaus Wellershoff und die Terre des Hommes-Generaldirektorin Barbara Hintermann die Neutralität als ein Leitprinzip für Unternehmen und Hilfsorganisationen.
Zwangsjacke der Aussenpolitik
„Die Illusion, dass Europa ein Friedens-Kontinent ist, ist mit dem Überfall der Russen geplatzt“, erklärte Andreas Rüesch von der NZZ in seinem Keynote-Referat. Er warnte vor den neoimperialen Ambitionen Putins und der globalen Verschiebung des geopolitischen Gefüges, die auch für die Schweiz unmittelbare Gefahren mit sich bringe.
Rüesch bemängelte den „Adjektivsalat“ in der Neutralitätsdebatte (u.a. „integrale“, „aktive“, „kooperative“ Neutralität). Er forderte, die Schweiz solle sich aus der „Zwangsjacke“ der bisherigen Aussenpolitik befreien und mehr Handlungsspielraum gewinnen. Es gebe in der Schweiz die zwei Lager der Neutralitäts-„Fundamentalisten“ und der „Schlaumeier“. Letztere würden das Prinzip immer wieder anpassen wollen. Hingegen müsste die „Dauerneutralität“ im Sinne der Landesinteressen aufgegeben und fallweise über Positionsbezüge und Engagements entschieden werden. Die Welt selber brauche keine neutrale Schweiz mehr, ja, das Prinzip selber sei international kaum mehr zu erklären. Russland respektiere es nicht, und in Europa stosse man politische Verbündete vor den Kopf.
Andreas Rüesch ordnet die geopolitischen Spannungen ein.
Neutralität neu definieren
Klaus Wellershoff, Gründer und Leiter des Unternehmens Wellershof & Partner, sieht die Welt als „verwirrend multi-orientiert“. In diesem Zusammenhang betonte er die Notwendigkeit neu zu entscheiden, wie sich die Schweiz in der Neutralitätsdebatte positionieren wolle. Angesichts der rasanten Wachstumsraten besonders im asiatischen Raum verändere sich die Welt so rapide, dass eine Neubesinnung nötig sei. Generell könne nicht davon ausgegangen werden, dass unsere Gesellschafts- und Geschäftsmodelle in der Welt attraktiv erscheinen. Der Ökonom argumentierte, dass der Begriff der Neutralität daher auf der Grundlage eines wertebasierten Konzepts neu definiert werden müsse.
Klaus Wellershoff nimmt eine finanzpolitische Perspektive ein.
Neutralität schafft Vertrauen
Barbara Hintermann vom Kinderhilfswerk Terre des Hommes nahm nicht eine staatspolitische Perspektive ein. Sie beleuchtete Neutralität als ein Prinzip internationaler humanitärer Aktion. Und erklärte an konkreten Beispielen, inwieweit dieses Prinzip, in Verbindung mit den Prinzipien von Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, humanitär erfolgreich war. Ohne Einhaltung dieser Prinzipien könnten Hilfswerke wie Terre des Hommes oder das Rote Kreuz in Krisenregionen kaum konkrete Hilfe leisten.
Barbara Hintermann stellt die Frage, ob humanitäre Hilfe Neutral sein muss.
„Die Welt braucht irgendwo eine neutrale Einheit, die zur Verfügung steht, um auch helfen zu können, wenn Hilfe möglich ist“, sagte Hintermann. Dass Neutralität gerade für Konfliktparteien auch „empörend wirken“ kann, räumte Hintermann ein. Aber sie sei nicht mit Schweigen gleichzusetzen, wenn Verstösse gegen Menschen-, Völker- und Kriegsrecht angeprangert werden müssten.
Die Referierenden im Gespräch mit Tobias Karcher SJ.
Stimmen aus der Community
Das Symposium warf also etliche drängende Fragen für die Führungsarbeit in Politik, Wirtschaft und humanitären Organisationen auf. Entsprechend aktiv beteiligten sich die Dutzenden von Gästen im Plenum und in den Diskussionsgruppen. So äusserte Christoph Albrecht SJ vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst in der Schweiz Bedenken hinsichtlich der humanitären Aspekte der Neutralität. Er betonte, dass wir die Perspektive jener verstehen sollten, die weniger Glück hatten als wir beim „Geburtslotto“.
Daniela Oehy, Leiterin Finanzen & Personal des ETH-Rats, hinterfragte, was Neutralität im Kontext der internationalen Beziehungen bedeute: "Wie neutral bleiben wir in unserem Denken und Handeln, wenn wir von unseren Nachbarländern unter Druck gesetzt werden?», fragte sie.
Das Symposium zeigte, dass eine Prüfung der Neutralität in Offenheit gegenüber verschiedenen Positionen angezeigt ist, um den Schweizerischen Weg im internationalen Kontext nachhaltig bestimmen zu können.
*Anastasia Balzer studiert den Masterstudiengang "Religion - Wirtschaft - Politik" an den Universitäten Zürich, Basel und Luzern. Sie beteiligt sich an der Lassalle-Community und berichtet regelmässig über deren Anlässe.